Wie Digitalisierung beginnt: der erste Anstoß (1/5)

Als Teil der Artikelreihe Wie Digitalisierung funktioniert befasst sich dieser erste Artikel mit der Frage, wie der erste Anstoß für Digitalisierung aussehen kann. Für einige Unternehmen geht es darum, Lösungen für eine anstehende Krise zu finden; für andere geht es um die Leidenschaft für Technologie; und dann gibt es noch die regulären kontextbedingte/“opportunistischen“ Projekte, die Technologie nur nutzen/einsetzen, um einen Marktbedarf zu erfüllen.

Wir werden daher versuchen zu verdeutlichen, wie sich Unternehmensgröße und neue Technologien auf das Ergebnis eines Digitalisierungsprojekts auswirken.

Krisenbedingte Digitalisierung (Optimierung durch Digitalisierung)

Wenn wir auf die Krisen der letzten 20 Jahre zurückblicken, stellen wir fest, dass sie alle sowohl in Bezug auf ihre Ursachen als auch auf ihre Auswirkungen auf Wirtschaft, Technologie und Digitalisierung unterschiedlich sind:

  • Die geplatzte Dotcom-Blase von 2002 „ist ein durch die Medien geprägter Kunstbegriff für eine im März 2000 geplatzte Spekulationsblase, die insbesondere die sogenannten Dotcom-Unternehmen der New Economy betraf und vor allem in Industrieländern zu Vermögensverlusten für Kleinanleger führte. Der Begriff Dotcom bezieht sich dabei auf die Top-Level-Domain „.com““. (Quelle: Wikipedia) Bezogen auf unser Thema war der Haupteffekt die Einsicht, dass nicht alles online sein sollte, und – wenn es schon online ist – dass es einen tatsächlichen Wert liefern sollte.
     
  • Die Weltfinanzkrise oder globale Finanzkrise von 2007-2008 „bezeichnet eine globale Banken- und Finanzkrise als Teil der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Die Krise war unter anderem Folge eines spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkts (Immobilienblase) in den USA.“ (Quelle: Wikipedia) Für den Zweck unseres Artikels war wohl das Bootstrapping die wichtigste Lektion aus dieser Zeit: Projekte/Unternehmen müssen ohne/mit kaum externer Finanzierung starten und schnell eine gewisse Resilienz gegen umweltbedingte (/nicht branchenspezifische /nicht unternehmensbezogene) Belastungen aufbauen.
     
  • Die aktuelle COVID-19-Pandemie hat die Weltwirtschaft schwer erschüttert. Bislang führte sie zu Millionen von verlorenen Arbeitsplätzen (d. h. weniger Kapital auf den Märkten), zum Zusammenbruch des Tourismus und zu Unterbrechungen der Lieferkette (d. h. weniger verfügbare Dienstleistungen/Produkte, daher weniger Konsum). Die Lehre daraus scheint zu sein, dass sowohl auf der Produktionsseite (Herstellung, Dienstleistungen) als auch auf der Konsumseite (Handel) der Wirtschaft digitale Werkzeuge gebaut werden könnten, um den fehlenden persönlichen Zugang zu kompensieren.

Wenn man am Ereignishorizont kratzt, um in die Zukunft zu sehen, zählt eine aktuelle Studie (Future of Supply Chain, Gartner, Januar 2021) die Digitalisierung der Lieferkette und die Veränderungen im E-Commerce zu den fünf wichtigsten Veränderungen, die in naher Zukunft zu beobachten sind.

Welche Art von Unternehmen kann also am meisten von der krisenbedingten Digitalisierung profitieren? Theoretisch sind es die großen, starken, die den dringenden Bedarf, die Kapazitäten und die Ressourcen haben. Die Demokratisierung des E-Commerce in den letzten Jahren bedeutet jedoch, dass auch kleinste Unternehmen, die zuvor stark von Amazon & Co. abhängig waren, nun mit gleichen Chancen im globalen Handel kämpfen können. (Shopify sagt wörtlich: „Erstelle deinen Onlineshop – ganz egal, in welcher Branche du bist“).

… Und was ist mit der Technologie? Unterstützt durch die Cloud hat es eine Blüte von ERP- und CRM-Lösungen gegeben, sowohl von den großen Software-/Lösungsanbietern (als standardisierte Einheitslösungen) als auch von kleineren Anbietern (als maßgeschneiderte Systeme). Wir sind der Meinung, dass das Hauptproblem in Bezug auf die Technologie nicht die Verfügbarkeit von Softwarelösungen ist, sondern deren Nutzung zur Steigerung des Wertes entlang der gesamten Wertschöpfungskette – und das ist eine Lektion, die wir bereits vor etwa 20 Jahren gelernt haben.

Digitalisierung aus Leidenschaft

An alle, die anders denken. Die Rebellen. Die Idealisten. Die Visionäre. Die Querdenker. Die, die sich in kein Schema pressen lassen. Die, die Dinge anders sehen. Sie beugen sich keinen Regeln und sie haben keinen Respekt vor dem Status-quo. Wir können sie zitieren, ihnen widersprechen, sie bewundern oder ablehnen. Das Einzige, was wir nicht können, ist, sie zu ignorieren. Weil sie Dinge verändern. Weil sie die Menschheit weiterbringen. Und während einige sie für verrückt halten, sehen wir in ihnen Genies. Denn die, die verrückt genug sind, zu denken, sie könnten die Welt verändern, sind die, die es tun.” (Think Different, Apple, 1997, deutsch)

Ja, Steve Jobs (und Apples) geniales Talent für digitale Innovationen kann als beste Definition für alles, was auf Leidenschaft basiert, angesehen werden. Aber man muss nicht für Apple arbeiten, um leidenschaftlich zu sein und dabei den Status-quo zu verändern. Ganz im Gegenteil.

Zurück zu Shopify: In den frühen 2000er Jahren war Tobi Lütke von zwei Dingen begeistert: Programmieren und Snowboarden. Als er seinen eigenen Snowboard-E-Shop startete, fand er keine ausreichend gute technische Plattform, also baute er seine eigene mit Ruby on Rails. Er verkaufte nicht nur Boards, sondern bekam auch Anfragen, seine Shop-Plattform zu öffnen – die schließlich, 15 Jahre später, mehr als 1 Million Unternehmen aus 175 Ländern unterstützt.

Und noch kleiner: In den Jahren 2014/2015 begannen ein paar frischgebackene Absolventen der Wiener TU, mit Machine Learning in Imagery-Anwendungen herumzuspielen, konkret mit der automatisierten Entfernung von Hintergründen aus Bildern.. (Sehr banal, nicht wahr?) Ohne eine klare Anwendung im Sinn zu haben, spielten sie weiter, bis sie über E-Commerce stolperten – d.h. ein umsatzstarker, schneller Markt, der saubere Bilder wie Marmeladenbrot verschlingt. Bis 2020 bekamen sie Konkurrenz (Adobe Photoshop brachte ein konkurrierendes Tool auf den Markt), und im Februar 2021 waren sie groß genug, um von Canva übernommen zu werden.

Unsere Erkenntnis? Es gilt, die Begeisterung beizubehalten, während man seine Lösung entwickelt und nach dem perfekten Product-Market-Fit sucht.

„Opportunistische“ Digitalisierung

Es gibt jedoch Situationen, in denen weder eine Krise noch die Leidenschaft des Unternehmers eine Rolle bei der Digitalisierung spielen. Gerade in größeren Unternehmen, in denen ein starker Fokus auf dem Wachstum des Unternehmens liegt, besteht ein akuter Bedarf, digitale Technologien für die angestrebten Ziele einzusetzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Umsatz und Gewinn zu steigern.

In der Theorie ist es einfach: den Bedarf kennen, entscheiden, wohin die Ressourcen zugewiesen werden sollen, die technologischen Lösungen auswählen und loslegen.

In der Praxis gibt es jedoch einige Hindernisse:

1. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen unterstützenden Technologien (bestehende/bekannte Technologien, die die Leistung etablierter Produkte verbessern) und disruptiven Technologien (neue Technologien, die das Potenzial haben, den Markt komplett zu verändern, basierend auf neuen Wertversprechen). Während unterstützende Technologien ein konstantes (aber langsames) Wachstum unterstützen können, haben disruptive Technologien das Potenzial, eine Branche/einen Markt komplett zu verändern.

Ein Beispiel: Im medizinischen Bereich gab es in den letzten 15-20 Jahren einen „run to the top“, der zu den technisch fortschrittlichsten, mit vielen Funktionen ausgestatteten Anästhesiegeräten von amerikanischen und deutschen Firmen wie GE Medical, Dräger und Heinen+Löwenstein führte. Konkurrenten am „unteren“ Ende der Skala, wie die in Shenzen ansässige Mindray Bio-Medical, konzentrierten sich auf das Wesentliche (z. B. Robustheit, Präzision, Sicherheit) zu einem niedrigeren Preis, was ihnen schließlich einen großen Marktanteil bescherte.

2. Es liegt in der Natur eines großen Unternehmens (das für viel Geld große Märkte beliefern muss), dass es sich nicht mit den aufstrebenden bahnbrechenden Technologien befassen kann (die in der Regel klein sind, bis sie abrupt wachsen). Ganz am Anfang einer disruptiven Technologie sind ihr Wert und ihr Markt/ihre Märkte überhaupt nicht abzusehen, und es dauert eine Weile, bis sie sich im Mainstreamdurchsetzt. Während dieser ganzen Zeit sind große Unternehmen meist blind, und dann wird es für sie etwas zu spät, um aufzuholen.

Beispiel: In einer berühmten (/widerlegten) Geschichte, die heute Teil der modernen Technologie-„Mythen“ ist, besuchten Steve Jobs und sein Team 1979 das Innovationszentrum von Xerox PARC, wo sie „die Maus, die Fenster, die Icons und andere Technologien entdeckten, die bei PARC entwickelt worden waren“; dann ließen sie diese von Apple kopieren. Auch wenn die Geschichte nicht zu 100 % stimmt, erzählt sie zumindest, wie Xerox (ein sehr großes Unternehmen) anscheinend das wahre Potenzial neuer/disruptiver Technologie nicht verstanden hat.

3. Nicht zuletzt sind Unternehmen nicht glücklich darüber, ihre eigenen Produkte zu kannibalisieren. „Wenn etwas nicht kaputt ist, warum es reparieren“, nicht wahr? Nur: Wenn das Unternehmen nicht freiwillig und gezielt Schritte setzt, um seine Produktlinie einem Stresstest zu unterziehen (und möglicherweise zu dekonstruieren), wird es jemand anderes tun – möglicherweise mit größerem „Erfolg“.

Vorletztes Beispiel: Auf dem Höhepunkt seines Bestehens war Kodak Teil des Fotofilm-Duopols, während es gleichzeitig 1975(!) buchstäblich die Digitalkamera erfand, nur um sie Jahre später wieder zu „verschrotten“. Der Grund: Sie hätte das Hauptgeschäft kannibalisiert. Das Ergebnis: Kodak meldete 2012 Konkurs an. Was hat die Konkurrenz gemacht: Fujifilm schwenkte erfolgreich auf Digitalfotografie um, gehörte zu den frühen Befürwortern der spiegellosen Technik und ist heute einer der wichtigsten Kamerahersteller.

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Auch wenn der Weg in Richtung Digitalisierung für große Unternehmen kein einfacher ist, gibt es tatsächlich Lösungen:

  • Zunächst einmal kann der richtige Mix aus Technologien, Märkten und Strategien nicht im Voraus bekannt sein. Daher sollte die Erkundung/Entdeckung Teil der Planung sein.
     
  • Märkte, Prozesse und Werte eines Unternehmens werden auf die Probe gestellt. Daher ist es sehr wichtig, eine belastbare, agile und wendige Organisation aufzubauen.
     
  • Sowohl aufgrund der Größe (/Trägheit) als auch der internen Prozesse eines Großunternehmens wird die Digitalisierung (/disruptive Technologie) besser durch die Schaffung eines separaten Teams und/oder einer Organisation angegangen. The Lean Startup und The Startup Way bieten zum Beispiel eines der besten Konzepte, wie man ein internes „Startup“-Team aufbaut, das Innovationen/Technologien erfolgreich validiert, übernimmt und skaliert.

Letztes Beispiel: 2016 hat Dräger (das oben erwähnte Unternehmen für medizinische Geräte) 127 Jahre nach seiner Gründung The Garage ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich buchstäblich um eine renovierte, rund um die Uhr geöffnete Garage, in der die Mitarbeiter Ideen und Projekte einbringen, die die Produktlinie des Unternehmens potenziell weiterentwickeln können. Alle Projekte nehmen an einem sogenannten Shark-Tank-Wettbewerb teil, wobei die vielversprechendsten Ideen grünes Licht erhalten, um in die tiefergehende Forschung und (möglicherweise) Entwicklung überzugehen.

Fazit

Es gibt viele Gründe, warum ein Digitalisierungsprojekt in einem Unternehmen initiiert werden kann. Während der erste Anstoß wichtig ist, sind die Bereitschaft und die Einstellung eines Unternehmens gegenüber der Innovation wesentlich. Und wenn es darauf ankommt, einen Mehrwert für die Stakeholder (Kunden, Mitarbeiter, Investoren) zu schaffen, dann ist eine kontinuierliche Erforschung und Weiterentwicklung unerlässlich.

In den nächsten Artikeln werden wir uns mit der Wertbestimmung und der Ressourcenzuweisung, der Entwicklung und dem Management von Softwareprodukten, dem Go-to-Market und dem Lebenszyklus und schließlich der Skalierung beschäftigen. Bleiben Sie auf dem Laufenden!

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